Saltkrakan

Das göttliche Kind heißt Tjorven, Pippi, Lisbeth oder Greta und wohnt auf einer Schäreninsel. Die Insel trägt den Namen eines Segelboots. Das göttliche Kind bewahrt sich nicht auf, um Erwachsenen ihre Erinnerung zu garantieren, wie es die Hybris der Alten missdeutet. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: im göttlichen Kind offenbart sich der Kosmos unbegrenzter Möglichkeiten aller Existenz. Das göttliche Kind war immer schon erwachsen.

Welche Teile des Kosmos abzusplittern drohen, zeigt sich der Expertin, wenn sie das göttliche Kind im vergifteten Paradies der Nordsee-Insel zu treffen versucht. „Denn alle seine großen Werke sind herrlich, wie am ersten Tag“ versicherte sie sich auf dem morgendlichen Gang durch die Dünen, ja, denn „hinter den Dünen dröhnte das Meer“. Abgesehen davon gehen Mann und Frau auf Sylt unterschiedliche Wege. Für sie ist hier die Insel, auf der ein achtlos herunter gekipptes Glas Champagner mehr kostet als ein Kinderbuch. Für ihn bedeutet Sylt alles, was er sich als junger Mensch erträumte. Sie kennt ihn seit seiner Kindheit und glaubt zu wissen, dass er sich falsch erinnert. Es ist eben die Insel, auf der Frau und Mann für einen sekundenkurzen Kick in Orkan und turmhohen Wellen „lachenden Mundes“ ihr Leben auf’s Spiel setzen, nicht aber den Mut besitzen, über Jahre hartnäckig für Personal, Bücher und Tablets in Schulen und Bibliothek zu kämpfen. Ein schwieriger Platz für das göttliche Kind. Trotzdem ist es hier zu Hause.

Es gibt ein paar Dinge auf Sylt, die Gäste bestenfalls bestaunen, nicht aber durchschauen: vor allem das Zusammenspiel von grenzenloser Weite und bedrängender Enge, von gleichzeitig diffuser Konturlosigkeit und glasklarer Begrenzung. Nur so glaubt man hier überleben zu können. Das hat die Insulaner die Natur gelehrt. Sie übernehmen die unsichtbare Matrix im gesellschaftlichen Miteinander, besonders aber auf ihren Entscheidungswegen. Deren Machtgefüge halten sie vor den auf welche Weise auch immer Zugereisten lustvoll verborgen. Dieses Spiel gefällt dem göttlichen Kind nun wieder über die Maßen. Es lacht an den richtigen Stellen, wenn die Großen und die Medien angesichts unerklärlicher Gewinne, Personalbesetzungen, Bebauungspläne und Veranstaltungszyklen vernehmlich schweigen.

Vom Paradies zur Obsession sind es nur wenige Schritte. Das kommt davon, wenn eine Expertin Schären-Inseln, die nach Booten heißen, unbedenklich zu Erfolgsfaktoren einer akademischen Laufbahn instrumentalisiert. Die sah dann, wo in rot gestrichenen Holzhäusern mit offenem Kamin gealterte Leserinnen sich nach verlässlichem Beton, Fußbodenheizung und italienischer Bettwäsche sehnten. Die erkannte, welcher ranzig gewordener Emanzipationstrotz noch immer durch das „wie es mir gefällt“ gestützt wurde. Und der graute vor den unbewiesenen Kausalketten, wonach 70 erbarmungslos durch alle Medien gezogene geniale Kinderbuch-Manuskripte auch dem hartnäckigsten Leseverweigerer lustvolle Alphabetisierungserfolge versprachen.

Der Kurpark in Garmisch-Partenkirchen bot der Expertin ein gelungenes Beispiel von Erinnerungskultur für einen Kinderbuchautor, der keiner hatte sein wollen und dem sie sich schon wegen seiner verdrucksten Identität verbunden fühlte. Ein verschmitzter, ausgebuffter Ort für das göttliche Kind. Als Sechsjährige hatte sie 1950 von ihrem Urlaubort Oberammergau mit Mutter und Bruder einen Bus-Ausflug hierher gemacht. Sie erinnerte den Schauer bei Kaffee und Kuchen als die überaus schlanken eleganten Frauen der US-Besatzung beim Kurkonzert in ihr Blickfeld gerieten. Sie wundert sich noch heute, wie gelassen ihre Mutter diese schönen Siegerinnen passieren ließ, sie ihren Kindern sozusagen vorführte, wohl weil sie das waren, was sie ihrer Tochter jetzt wünschte.

In Oberammergau machte sie Bekanntschaft mit dem göttlichen Kind, begriff schockartig die Diskrepanz von Leben und Literatur , konnte und wollte sich nicht entscheiden. An einem Samstag ging die Mutter mit ihnen in ein elegantes Lokal, in dem Angehörige der US-Besatzung verkehrten. Es war teuer, man konnte dort keine Touropa-Gutscheine eintauschen. Der Bruder blieb in der Einfahrt stehen, um die US-Straßenkreuzer auf dem Parkplatz zu bewundern. Das Kind entdeckte einen schwarzen Jungen, der auf den Stufen vor dem Eingang saß. In Erinnerung an das Buch, aus dem ihr nur einzelne Passagen vorgelesen wurden, weil mehr davon einfach zu traurig gewesen wäre, sah sie die Situation ganz klar. Aufgeregt schrie sie „Ein Negersklave, ein Negersklave, der darf nicht mit hinein“ und fing an zu weinen. Der Bruder zeigte ihr den Vogel. Der Junge winkte ihr zu. Die Mutter tröstete sie mit unsicheren Worten beim zögernden Vorbei- und Hineingehen. Ihr waren genügend Lokale bekannt, in denen sie als Angehörige vom besiegten Nazi-Deutschland tatsächlich nicht erwünscht war. Mutter und Tochter wussten nun beide, wo der Mund zu halten war, wenn es um das göttliche Kind ging.

Seit in den Tälern Südtirols der Reichtum nicht mehr verborgen werden konnte, ging sie mit dem Hund 1.000 Meter höher und wanderte über die Hochalmen, Arbeitsplatz der Bergbauernkinder ihrer ersten Südtirol-Aufenthalte vor fünfzig Jahren. Das Kind und der Hund liefen kreuz und quer über den Ritten und die Seiser Alm. Bei Vollmond übernachteten sie in nun fast luxuriösen Berghütten. Stunden- und tagelang war sie ganz sie selbst in wechselnder Gestalt - als Schwabenkind auf dem Weg zur Sommerplackerei nördlich der Alpen, als Bergbauernbub der lichten Wälder, in denen italienische Pilzsammler sie argwöhnisch betrachteten, als reiche Bozner Patriziertochter auf dem Weg zur dritten der acht "Bozener Seligkeiten“, der Sommerfrische in Oberbozen. Aber irgendwann war das alles verschwunden. Sie hatte über Wissenschaft und stupende Weltläufigkeit die Natur als Lebensraum und Traumwelt verloren. Der Verlust ließ sich weder herbei lesen noch restaurieren. Das funktionierte erst wieder, als google earth soweit entwickelt war, sie nachts im Bett mit dem I-phone die alten Wege bergauf und bergab zu führen. Und sie sich erinnerte – ja, an das Glück, aber auch an ihre Südtiroler Sünde, bei der sie und das göttliche Kind sich auf unverzeihliche Weise in die Quere gekommen waren.

Ins Alimentari, dem Gemischtwarenhandel des Dorfes trat Hand in Hand das abgehetzte kleine Geschwisterpaar , das sie noch vor ein paar Stunden als Kinder des Hofes in einer Bergwirtschaft gutwillig bedient hatte. Sie gaben den Einkaufszettel der Besitzerin. Die suchte die überreifen Bananen, die gequetschten Birnen, die halb geöffnete, verstaubte Packung Zucker heraus. Der kleine Protest des Jungen ging im strengen Blick der Frau unter. Das Mädchen fügte sich seufzend in die gewohnte Demütigung. Und sie, im Anblick von Heidi und dem Geißenpeter versunken, hatte nichts gesagt, war ihrer nun aufkommenden Empörung nicht gefolgt, hatte ihre norddeutsche Eloquenz nicht eingesetzt, den Kindern keine Hilfe geboten, noch nicht einmal eine kleine Süßigkeit gekauft. Oliver Twist zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Diese Trägheit des Herzens verzieh sie sich nicht. Den Laden betrat sie nicht wieder - als ob das etwas änderte! Aber wenn sie vorbei kam, ging ihr eine tiefe Beschämung durch den Körper, ein Gefühl, das sie vorher nicht gekannt hatte. Das göttliche Kind weinte. Es war verraten worden.

Kein Ort, an dem das göttliche Kind ihr nicht einen Strich durch die Rechnung machte. Den Gipfel erreichte die Peinlichkeit im Kultusministerium der DDR bei Verhandlungen über gemeinsame zukünftige Aktivitäten in Sachen Kinder- und Jugendliteratur. Jeder im Raum wusste, dass es dieses Ministerium und all‘ seine Pläne nicht mehr lange geben würde. Dass hier immer noch abgehört wurde, war ebenso klar. Zur Auflockerung der gespannten Atmosphäre plauderte sie über deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten und Unterschiede des offiziellen Sprachgebrauchs. Sie wollte den Konflikt auf eine abstrakte Ebene heben, ein törichtes Unterfangen. Und sie war dumm genug, hinzuzufügen, dass die Kinder- und Jugendliteratur auch hier eine Brücke bilden könne. Sie zum Beispiel erkenne Charakter, Absicht und Hintergrund jeden Gegenübers am sichersten, wenn es sich zu der bekanntesten Kinderbuchfigur der Welt äußere. Saltkrakan glitt sanft durch morgendlichen Nebel, im Schwaden von Zigarettenrauch und osteuropäischem Weinbrandt-Aroma. Aus vierzig Jahren Erfahrung kenne sie jede Nuance, jede Stimmung. Allein, wie Subjekt, Prädikat Objekt gesetzt würde, sage ihr „alles“. Die Literaturexpertin ihr gegenüber, eine jener umschwärmten sozialistischen Prinzessinnen, geriet ins Schwitzen, verlor den Faden, starrte sie an. Das amüsierte offensichtlich ihren Nachbarn und Vorgesetzten. Der BRD-Kollege fühlte seine schlecht verhohlene Meinung bestätigt, diese Kinderbuchleute seien einfach nicht satisfaktionsfähig. Bingo!

Sie flüchtete immer öfter in die wenigen ihr verbliebenen Bereiche, in denen das göttliche Kind nicht anzutreffen war. Bankhallen, wunderbar neutral, literaturfern und kinderfeindlich erfüllten auch oder gerade in Zeiten des Computer-Banking ihren Zweck. Gringotts Zaubererbank, in der Harry Potters Vermögen ruht, hatte sie allerdings auch dieser bisher untadeligen Rückzugsmöglichkeit weitgehend beraubt. Ebenso ging es ihr mit der Wiener Bank aus besten KuK-Zeiten. Die mutierte zum Nobelhotel für Diplomaten aus Nah-Ost und Russland. In der früher eiskalten Geschäftshalle wurde sie nun als touristischer Gourmet-Gast begrüßt – überdreht!

Auf dem Römischen Kapitol folgte sie der Schulklasse etwa 12jähriger Jungen und Mädchen, denen die französische Elite-Erziehung ebenso an zu sehen wie anzuhören war – garantiert Jugendliteratur freies Gebiet! Sie ahnte, wohin der Lehrer und die Lehrerin die Kinder führten und das war auch ihr Ziel. Ein gebrechlicher alter Mann wurde im Rollstuhl die Marmortreppen hinauf getragen. Als er sich neben die Statue „Der sterbende Gallier“ schob, wurde es tatsächlich still. Dann begann er im klarsten Französisch ruhig und ohne Zögern die Schönheit und Würde des jungen keltischen Kriegers zu beschreiben. Sie verstand jedes Wort des geschwächten Mannes ihres Alters – und nicht nur der Sprache nach. Er zeigte auf Körperhaltung, Muskulatur, das Einverständnis unter zu gehen ohne sich selbst aufzugeben - die Anmut der gebändigten Stärke. Dieser sterbende schöne Mensch hatte schon die Sensationsgier seiner Zeitgenossen im Tempel von Pergamon konterkariert, die ihn als überwältigten Barbaren begaffen wollten. Ein Komplott: Künstler und Kunstwerk waren dem Betrachter für immer überlegen. Die Aura war noch in der römischen Marmor-Replik ein Bollwerk vor den Zugriffen der Digitalisierung, erlaubte keine Anbiederung. So folgte keine Zustimmung erheischende Andeutung auf Asterix und Obelix, kein gequälter Hinweis auf die Aktualität des besiegten jugendlichen Kämpfers für eine gerechte Sache. Die digital natives wurden dort abgeholt, wo sie auf zwei Beinen standen, nicht dort, wo ein millionenschwerer Fantasy-Autor sie als Süchtige nach unverbindlichem und folgelosen Mord und Totschlag erwarten zu können glaubte. Da fühlte sie sich frei zu sterben und dankte dem Lehrer, der sich ohne Schonung in den Dienst der Wahrheit gestellt hatte und vertrauensvoll seinen Schülern die Verantwortung überließ.

Sie fuhr zurück zu den die Schären, wo die Dichterin in Krisenzeiten, die nicht vergehen wollten, Trost beim göttlichen Kind gesucht hatte. Anstelle von Saltkrakan, dem Segelboot des Verlegers, trieb eine skandinavische Riesenfähre vorbei. Ihr Schatten fiel auf das Ferienhaus und den plötzlich winzigen Strand vor ihm.

Birgit Dankert

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