Highy Tea

Hotelhallen waren das Beste gegen zögernd herannahendes Elend. Selbst das Warten bekam einen Sinn, wenn nichts das Auge störte und Möblierung wie Geschäftston auf Neutralität gestimmt waren. Sie wusste, dass man auf die Freundin warten musste und führte sich gelassen den Ablauf der kommende Unterhaltung beim High Tea vor Augen: ein über Jahrzehnte feinfühlig und vertrauensvoll entwickeltes Ritual, begonnen in den angesagten Treffpunkten des hedonistischen Teils der 68iger, angekommen in Hamburger Luxus-Refugien. Zunächst galt es, einander das gepflegte, jugendliche Aussehen zuzusichern und die rasch überprüfte Garderobe der anderen zu bewundern. Da durfte nach keiner Richtung übertrieben werden. Die Kunst bestand in der Wortwahl auf des Messers Schneide von kühler Analyse und plumper Schmeichelei. Danach wurde eine der Varianten ins Spiel gebracht, die das kleine Wunder beschrieben, überhaupt Zeit für dieses Treffen gefunden zu haben. Und damit war das Tor offen für die vielfältigen Projekte, die man ins Leben gerufen, für die man ein Angebot erhalten hatte oder die noch dahin standen. Die Projekte gaben Nebensätzen Raum, in denen diskret tatsächliche Befindlichkeit übermittelt wurde: der Triumph, der Schmerz, die Sehnsucht, das Versagen, die Ratlosigkeit, der Neid, der unstillbare Lebenshunger, das unverzeihliche Fehlverhalten. Auf diese Weise stellte sich eine geradezu unschuldige Behaglichkeit ein, die fast allen Fährnissen ihrer beider Leben trotzte.

Als die Freundin auf sie zulief, schien sie für einen Moment vom Weg durch die Halle abzukommen. „Du bist schon da? Wir wollten uns doch erst in einer halben Stunde treffen“, rief sie atemlos. Das war neu. Sie liebten Absurditäten. Das surreale Zeitverständnis der Freundin hatte beide schon oft zu nicht enden wollenden Wortspielen befähigt. Jetzt fühlte sie es gegen sich gerichtet „Bring lieber deinen Mantel zur Garderobe“ antwortete sie lachend und besorgte das unauffällig als die Freundin keine Anstalten machte, den eleganten schwarzen Lammfell-Mantel aufzuheben, den sie heute nachlässig, aber nicht ganz so schwungvoll aufs Parkett neben ihren Sessel hatte fallen lassen.

Beim Tee beanspruchte die Freundin das Wort, da kannte sie sich aus. Sie hatte Kindheit und Jugend dort verbracht, wo Tee weder Mangel an Kaffee noch feinere Lebensart bedeutete. Was das unwissende ehemalige Flüchtlingskind sich in der Wartezeit bestellt hatte, nahm sie nicht ernst. Beim auftrumpfenden Geständnis, dass es immerhin Yasmin-Tee sei, nickte die Freundin gutmütig und bestellte das Richtige. Wie liebte sie die schnoddrige Selbstverständlichkeit, mit der ihre Freundin die Teetassen über den Tisch jonglierte, Sieb, Zitrone, Milch und Reserve-Wasser schief anschaute und einen ersten tiefen Schluck tat. Jetzt durfte auch sie gefahrlos, weil von einer Kennerin beschützt, trinken.

In stiller Kumpanei, aber mit wachsendem Bedenken beobachtete sie, wie die Freundin die üppigen Angebote des Hanseatischen High Tea durcheinander wirbelte. Es fehlte nicht viel und sie hätte alles angebissen und mit einer Grimasse weg geschoben. Oder waren das ihre eigenen Reflexe, mit der sie der Freundin heimlich gehegte Wünsche zur Last legte? Früher gehörte es zu beider Protestprogramm, bürgerliche Kleinlichkeiten wie Reihenfolgen zu ignorieren. Besser man hielt das Verhalten der Freundin für einen amüsanten Rückfall in diese Attitüde. Dann aber beobachtete sie, wie sich Ratlosigkeit im weichen Gesicht ihres Gegenübers breit machte. Es sah fast so aus, als ob die geordnete Vielfalt von Formen, Farben, Material und Düften die Freundin überforderte und auch sie selbst die Kontur verlor. Junge Frauen aus ratloser Irritation zu lösen, hatte drei Jahrzehnte zu ihrem Alltag gehört. Man konnte es auch hier versuchen. „Komm, wir manschen alles zusammen und lassen große silberne Löffel kommen“ flüsterte sie der Freundin verschwörerisch zu und streichelte ihr den Arm. Deren Augen zeigten, dass sie zurückkehrte, die Panik verlor sich. „Die Sandwiches sind von gestern, warst du da schon ‚mal hier?“ blaffte die Freundin sie an. Der normale Umgangston kehrte zurück, gut gemacht!

Wann hatte dieses nagende Misstrauen begonnen? Warum argwöhnte sie nun Angeberei auf verschwenderischen Einkaufstouren, Bosheit in verspielten Nebensätzen, Verrat in nur leicht veränderten Daten? Nein, der Computer bot keine Orientierungshilfe. Stellte ihr die so mühsam eingeübte Sorgfalt im Umgang mit der Freundin immer öfter Fallen? Sie zwang sich zu analytischem Denken. Erlebte sie Vergleichbares inzwischen auch mit anderen Freundinnen und Bekannten? Dachte sie dabei an vergessene Verabredungen, verfehlte Treffpunkte, nicht eingehaltene Abmachungen und missverstandene Übereinkünfte , so war das sicher der Fall. Aber in diesen Vorfällen sah sie kein Muster. Das Misstrauen im Umgang mit der Freundin war anderer Natur – es ähnelte der Eifersucht und entzog sich jeder Rechtfertigung. An Vernunft war hier nicht zu denken. Vielleicht aber an Sehnsucht nach etwas Dramatik.

Sie riss den Vorhang auf. Die Hotelhalle war nur leicht verändert, das gleiche diskrete Licht und Gemurmel. Aber es roch nach dem Desinfektionsmittel der feineren sozialistischen Art, so wie sie es noch in den Gästehäusern für die höheren Ränge der DDR oder osteuropäischer Staaten kennen gelernt hatte. Jüngere Besucher aus der westlichen Welt würden wohl vermuten, die Verbindungstüren zum Swimmingpool funktionierten nicht einwandfrei. Sie war alt genug, sich an Entlausungsaktionen und Hygiene-Maßnahmen vor den lebensrettenden Schulspeisungen der Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Auch hier bewältigte Vergangenheit die neue Angst. Heute Abend Arirang im 1.-Mai- Stadion von Pjöngjang, zwei Tage Vorträge in der Kim-Chaek-Universität, Besichtigungen und Verhandlungen, dann Teilnahme an der Militärparade auf dem Kim Il-Sung-Platz zum 75.jährigen Bestehen der nordkoreanischen Volksarmee: no risk, no fun. Aber das klang schon wie das Pfeifen im Walde.

Als ihre Begleiterin sich vorstellte, führte sie ihre Schweizer Erziehung ins Feld. Was diese Qualifikation bedeutete, wurde ihr erst nach der Machtübergabe an Kim Jong-Un klar. Heute trug die überraschend rundliche junge Frau das traditionelle koreanische Frauengewand in der Kunstfaser-Version, also zunächst offizielle Pflichten minderer Art. Das Arirang-Spektakel übertraf ihre kühnsten Vorstellungen bei weitem. Wann hatte sie sich diesen Sachverhalt jenseits allen marketing-Gewäschs das letzte Mal eingestanden? Es war großartig. Sie war fasziniert von den lebenden Mosaiken, dem Klack Klack der sich ändernden Bilder. Ja, ja, es war Polit-Propaganda, aber doch auch Pop-Art, wie keine kapitalistische Firma sie sich in des Wortes doppelter Bedeutung je würde leisten können. Doch das Misstrauen fand Nahrung, als in der Pause ein Mann dem westlichen Zuschauer vor ihr einen Zettel zustecken wollte und blitzschnell zurückgerissen wurde , erst recht, als sie die stoischen Gesichter sah, mit denen die eben noch wild applaudierenden Besucher in ihre Busse stiegen. Denen hatte es nicht gefallen.

Die Powerpoints mit koreanischen Texten waren eingespielt. Sie würde für die Vorträge die deutsche Version benutzen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ihre Begleiterin und die Übersetzerin hatten Angst, große Angst. Schon in der Vorbesprechung herrschte der Universitäts-Repräsentant im Harvard-Look die jungen Frauen an. Deren bisher vorgeführte gesellschaftliche Stellung schien dahin zu schmelzen. Geht dich nichts an, leg los. Sie war darüber informiert, dass die Zuhörer – nur wenige Frauen – sie nicht ansehen und keine Reaktion zeigen würden. Trotzdem führte sie mit Pointen, Scherzen und der üblichen Anmache durch die verfügbaren deutschen Datenbanken. E-learning-Programme und wissenschaftliche Kooperationspojekte im IT-Bereich. Wissentlich erzählte sie locker von einer Welt, die Nordkorea besitzen wollte, aber aus eigener Kraft nicht entwickeln konnte. Las sie das Gesicht des Konferenzleiters richtig, so war er am Ende seiner Geduld – er hatte sie verstanden. Auf Englisch zischte er sie an „Das sind hier alles wissenschaftliche Experten. Wir wollen wissen, wie Sie ein Interface entwickeln.“ „Dazu müssten Sie das Internet ohne Filter und Zensur zugänglich machen – und dann brauchen Sie mich nicht mehr“. Damit war es zu Ende. Ein vages Lächeln ging über sein Gesicht – oder wünschte sie sich das? Keine weiteren Fragen. Einer der Teilnehmer kam auf sie zu, wies sich zunächst zackig in akzentfreiem Deutsch und beherrschter Miene als ehemaliger Student in Leipzig aus, um sie dann vertraulich an zu schubsen und lächelnd zu gestehen, wie schön es sei, wieder einmal eine deutsche Frau zu treffen. Sie glaubte ihm jedes Wort, jeden Schubser. Er hatte seinen „Faust“ gelesen, die Strategie war gut gewählt.

Am Tag der Militärparade geriet augenscheinlich ganz Pjöngjang in Bewegung – aufgeteilt in Gruppen, deren offizielle Bedeutung vom stets anwesenden Politoffizier erklärt, deren ideologische Einordnung vom deutschen Experten aus Seoul blitzschnell ergänzt wurde. “Ich bin deine Ampel, Du musst mir gehorchen“ übersetzte ihre Begleiterin – heute in der besseren Stoff-Version – die Kommando-Stimme der Verkehrspolizistin als sie ungerührt eine Kreuzung passierten. Zwei Stunden dauerte der reglementierte Weg durch die Kontrollen und Sicherheitssperren. Jemand in der Schlange weiter vorne schaute sie rückwärts blickend unverwandt an. „Big brother is watching you, du Feigling, schau doch ‚mal hin“ sagte sie sich und hob den Kopf. Es war ein hochgewachsenes älteres Ehepaar, Europäer, US-Bürger oder Kanadier. Überdreht von der ungewohnten Anstrengung und Erwartung trafen sie die unverhohlenen, wie ihr schien mit kaltem Hass erfüllten Blicke wie Blitzschläge. Als sie den deutschen Experten neben sich darauf ansprach, wusste der sofort Bescheid. „Das sind die letzten hochrangigen DDR-Berater von Kim Jong-Il. Sie hätten ausreisen können, sind aber geblieben und spielen immer noch eine gewisse Rolle“. Ihr fröstelte. Sie fürchtete sich. Die Militärparade dauerte 3 ½ Stunden. Wer das Waffenarsenal und Menschenpotential an sich vorüber ziehen sah, traute westlichen Kommentaren nie mehr. Sie stand an exponierter Stelle und roch das Öl der Geschütze, sah deutlich den Diktator im Khaki-farbenen lässigen Blouson nicht weit entfernt auf einer Balustrade im zweiten Stock – vielleicht aus ballistischen Gründen nicht im Zentrum und immer in Bewegung.

Sie war in Pjönjang, während ihre Freundin von einer neuen IT-Seniorinnengruppe berichtete, die sie erfolgreich eingerichtet hatte und betreute – noch keiner abgesprungen – prima! Wie musste es mit ihr bestellt sein, wenn sie sich traute, ihr wachsendes Misstrauen beim freundschaftlichen Umgang mit Bildern aus der Diktatur Nordkoreas zu verbinden – Hybris oder Kontrollverlust? Wie gut, dass niemand etwas merkte.

Draußen war es schon dunkel, als sie aufbrachen. Erste Gäste nahmen Platz an der Bar. Die Jahre, in denen dieser Zeitpunkt mit hochgezogenen Augenbauen als ein Höhepunkt ihres Aufenthaltes genossen wurde, waren vorbei. Die Freundin konnte einen kichernden Schlenker zu den Maßanzügen nicht lassen. Es war kein Flirt, sondern ein kurzer Aufschub. An der Garderobe im schwarzen Lammfellmantel klagte die Freundin „ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen“ Die Worte, das harte Gesicht nahm sie zunächst lachend wahr, wollte erneut beides für einen Scherz halten. Gezahlt hatte sie bereits - unbemerkt wie meistens. Als die Freundin beim Herausgehen beiläufig um Geld für das Hotel-Parkhaus bat, gleich darauf in ihr auf der anderen Straßenseite unvorschriftsmäßig geparktes Auto stieg und grußlos davon fuhr, war keine Beschönigung mehr möglich. Ein sich schon lange ankündigendes Gefühl des Entsetzens schlug zu. Es verhielt sich so, wie sie sich verboten hatte zu erkennen.

Ohne Bedauern oder Mitleid, vielmehr aufgestört ging sie zurück in die Halle, gab ihre Jacke noch einmal an der Garderobe ab, setzte sich auf das ausladende Sofa vor dem abgeräumten Tisch und bestellte eine Tasse heiße Schokolade, den Trostkakao ihrer Kindheit. Die Bedienung schien ein solches Nachspiel öfter zu erleben, rückte alles fast liebevoll zurecht und schaute sie aufmunternd an. Was war zu tun? Das Alter hatte aus der unterhaltsamen Exzentrik der schönen, geistvollen Freundin Bosheit und Vorteilnahme gemacht. Oder war sie hinter dem Schleier von Liebenswürdigkeit und Eleganz immer so gewesen? War die Freundin nichts anderes als eine Schimäre eigener Wünsche nach einer Vertrauten, die im Alter zerfiel? War vielmehr sie selbst diejenige, deren schwindende Spannkraft das Konstrukt Freundschaft nicht mehr zusammen hielt? Sie erinnerte sich an die ersten Demenzphasen ihrer Mutter, in denen die einst großzügige, liebevoll und zupackend agierende Frau durch gezielte Tücke zwei mit Sorgfalt ausgesuchte Helferinnen solange gegen einander ausspielte, bis die Tüchtigere das Handtuch warf und kündigte. Es lag vor ihr, was der Freundin und auch ihr bevorstand. Die Party war vorüber! Wie oft hatten beide diesen Satz als vorauseilende Beschwörung benutzt - in der sicheren Gewissheit, dass alles Schöne dank ihrer beider Tüchtigkeit wiederkehrte. Es würde also so sein, dass sie einander misstrauten, übervorteilten, verfehlten. Was ihnen einmal zur gegenseitigen Bestätigung gedient hatte, setzten sie von nun an gegeneinander ein.

Sich ungeniert der eigenen Vorzüge vor denen der anderen zu vergewissern, gehörte zum Kitt ihrer Freundschaft, gewährleistete die Balance. Und so machte sie sich klar, dass ja sie noch imstande und damit im Recht war, Entscheidungen für beide zu treffen. Nach kurzem Nachdenken verwarf sie die Möglichkeit, einen Streit vom Zaun zu brechen und beleidigt zu verschwinden. Ebenso wenig brachte sie es fertig, ihre Freundschaft als längst nutzlose strategische Allianz abzutun. Sie verfügte nur noch über ein anständiges Mittel, den Verfall aufzuhalten. In das I-Phone tippte sie mit den mühsam disziplinierten fahrigen Fingern alter Frauen „Leb wohl, meine langjährige Freundin“.

Birgit Dankert

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