Gendarmstien - Gendarmenpfad

Unten am Strandkiosk sollte es ab heute morgen Frühstücksbrötchen zu kaufen geben, zunächst für die Sommermonate, in denen die neuen Ferienwohnungen rundherum belegt waren. „Caesar kommt mit, du bist ja schon ganz unruhig“ rief sie dem Hund zu, der sich an der Haustür zu schaffen machte. Beim Heruntergehen durch das kleine Gehölz glaubte sie das Erhoffte schon zu riechen.

Aber der vertraute Algorithmus der Bäume schien sich verändert zu haben. Es kam ihr für einen Blick in die Höhe so vor, als säße ein großer Schwarm Krähen in den Bäumen. Das konnte zu dieser Tages- und Jahreszeit nicht sein. Ein paar Schritte weiter sah sie auf dem aufgespülten weißen Sand des künstlichen Strandes leichte, fast primitiv anmutende Boote. Daneben saßen und standen dunkel gekleidete Menschen in ungewohntem Aufzug, nicht ein paar, es waren hunderte, soweit das Auge reichte, bis hinauf zu den Hügeln mit den Ferienhäusern. Aus dem Wasser stiegen immer mehr Männer und Frauen in engen Latex-Anzügen. In der aufgewühlten Förde konnte sie eine lange Folge von Schwimmern ausmachen - wie beim Start des jährlichen  Fördecrossings  eine vielköpfige und tausendarmige Seeschlange.

Zunächst eher neugierig als besorgt  hielt sie die kontrolliert agierende Menge für eine übende Soldaten-Schwadron der hier stationierten Bundeswehr oder für Teile der NATO-Truppen im Manöver. Jede Nacht so um 23.00 Uhr tankten ja im Himmel über der Förde dicht bei ihrem Haus Militärmaschinen an einer fliegenden Kerosin-Station auf: Zeit ins Bett zu gehen. Sie wehrte sich zu erkennen, was doch offensichtlich vor ihren Augen stattfand: eine organisierte Landnahme durch Menschen, die sich in dieser Umgebung nicht fremd fühlten, aber doch fremd waren. Jetzt kam Panik in ihr auf.

Als sie die Physiognomien der Männer und Frauen sah, assoziierte sie Menschen aus den Randrepubliken der ehemaligen Sowjetunion und es durchfuhr sie als Reflex des Traumas ihrer Mutter  und Großmutter der Satz „Die Russen kommen“. Aber es war keine Armee. Sichtbar trug niemand Waffen. Die Körpersprache war gelassen, das Minenspiel aufmerksam, aber nicht bedrohlich. Der Hund ging vertrauensvoll auf sie zu. Sie nahmen ihn wie selbstverständlich in ihre Mitte, Er fühlte sich wohl.

Aufgewühlt und ratlos ging sie zurück ins Haus. Caesar musste sie an die Leine nehmen, damit er ihr folgte. Aus dem Küchenfenster beobachtete sie, wie einige begannen, bei den Bäumen zwischen Strand und ihrem Haus Unterholz zu sammeln und für ein Feuer zu stapeln. Sie waren vorsichtig und kenntnisreich in Auswahl und Ausführung.

Sie schaltete einen dänischen Fernsehsender ein und sah, was sie auch jetzt nicht glauben konnte.  Nicht im militärischen Gleichschritt, wohl aber in geordneter Formation gingen Tausende auf dem Gendarmstien in südlicher Richtung. Aufnahmen aus Hubschraubern zeigten die dunkle Menschenschlange inmitten einer grün, gelb und azurblauen Landschaft. Für ihr nautisch nicht geschultes Auge waren die so primitiv anmutenden Begleitboote nichts, was auf einen militärischen Konvoi schließen ließ. Als sie daraufhin am Fenster im Obergeschoss über die Ostsee schaute, nahm sie am gegenüber liegenden, dänischen Ufer etwas wie ein schwarzes Band wahr. Es bewegte sich vorwärts. Der Weg, den es nahm, war ihr als Spazierweg vertraut. Der Gendarmstien oder in deutscher Sprache Gendarmenpfad führte fast durchgängig direkt am Wasser, oft oberhalb des Strandes, über 72 km die Küste entlang. Eingerichtet wurde er vor fast 200 Jahren als Patrouillenweg zur Grenzsicherung. Noch wurden die Geschichten über Schwimmer und Boots-Flüchtlinge aus der Zeit der deutschen Besetzung Dänemarks im Zweiten Weltkrieg erzählt, als der Gendarmstien zum letzten Mal eine strategische Rolle gespielt hatte. Wer sich jetzt  illegal von hier aus nach Schweden oder England auf den Weg machte, traf auf dem Gendarmstien Touristen und Freunde des Europäischen Fernwanderwegs E6, als dessen Teil er nun fungierte.

Die Wanderungsbewegungen auf dem Gendarmstien schlugen eine Richtung ein, die weder den historischen noch den gegenwärtigen dänischen Befürchtungen folgte. Und es waren offensichtlich Menschen, die die dänische Polizei oder Armee nicht aufhalten konnte oder wollte. Sie gingen nach Süden, nicht nach Norden. „Es ist eine Völkerwanderung, kein Flüchtlingsstrom“ sagte sie, um sich gleich darauf zu berichtigen. „es sind Klimaflüchtlinge, allerdings in eine verwirrende  Richtung. Fliehen sie vor den Russen, die die Arktis okkupieren? Sie vertrauen auf die Strukturen Westeuropas.“  Die seit Jahren verlassenen Ochseninseln auf dänischem Hoheitsgebiet in der Flensburger Förde hatten sie bereits eingenommen. „Auf Sylt werden sie jeden freien kostbaren qm bevölkern“ schoss es ihr mit grimmigem Vergnügen durch den Kopf „und Robben jagen“.

 

Als sie an der Haustür schellten, rekapitulierte ihr Hirn zunächst alle Vorurteile über Grönländer und Inuits: Alkohol, Frauen als Gastgeschenk, roher Fisch, Leibesfülle mit Fettgeruch und natürlich die in Journalismus und Literatur  immer wieder genüsslich beschworene Veränderung der Welt  oder Verstrahlung der nördlichen Weltkugel durch das, was im auftauendes Permafrost zutage treten würde. Sie sperrte den Hund in das Esszimmer betätigte nicht den Drücker, sondern öffnete die Haustür und lächelte ihnen furchtlos und einladend entgegen. Es waren drei Personen in trockener Trainingskleidung, zwei Frauen, ein Mann. Caesar bellte, kratzte und sprang hinter der Tür auf und ab. Eine der Frauen sagte mit überraschend leiser, ruhiger Stimme in korrektem Englisch „Wir brauchen Lebensmittel und Kleidung. Wir können bezahlen“. Sie griff in die Jackentasche und zeigte Dollars, dänische Kronen und Euros. Es war nicht die Spur von Bitte oder Unterwürfigkeit in ihrer Miene. „Kommen Sie mit“ winkte sie die drei herein. Der Mann blieb draußen an der Haustüre stehen. Sie öffnete den Frauen in der Küche Eisschrank und Vorratsschränke. Nach kurzer Prüfung stellten die Frauen eine Auswahl auf den Küchentisch, die auch sie für einen kurzen Trip ins Ungewisse zusammengestellt hätte.

„Kleider?“ fragte die Ältere der beiden. Als sie ihre Kleiderschränke öffnete, schaute sie den beiden Frauen neugierig und erwartungsvoll zu. Was würden sie sagen, was auswählen? Auf den Gesichtern keine Regung, aber die Augen wanderten über den Bestand und tauschten  mit Blicken Entscheidungen aus – von „Frau zu Frau“ oder Kämpferin zu Kämpferin? Es war ihr klar, dass hier eine Charity-Auswahl mildtätiger Kleiderspenden nicht erwünscht war. Sie machte eine einladende Geste, um anzudeuten, dass die Frauen wählen sollten. Aber das war längst geschehen. Ein Stapel von Hosen, Jacken und Pullovern, funktionale Kleidung, wanderte zunächst auf die Betten. Sie wies auf die Kommode mit der Unterwäsche – auch hier das Praktische in guter Qualität, bedeckte Farben.

Die Frauen sahen einander an, berieten sich mit den Augen. Die Jüngere sagte „Wir brauchen Männerkleidung“. Sie führte die beiden über den Flur ins Arbeitszimmer ihres Mannes, in dem auch seine Kleiderschränke eingebaut waren. Etwas wie Erleichterung ging über das Gesicht der Älteren angesichts der beträchtlichen Textilgröße der Herrenkleidung, die sie prüften, aussuchten und auf den Schreibtisch legten.

Sie war schon unterwegs zum Flurschrank, um Beutel und Taschen anzubieten, die dort von Einkäufen, Buchmessen, Konferenzen und Gastgeschenken sorgfältig nach Größe sortiert lagen und einer sozial verträglichen und umweltschonenden Verwendung harrten. Mit Bewunderung registrierte sie, wie die beiden Frauen abwinkten und Beutel aus ihren Anoraks zogen, dann geschickt alle Kleidung  falteten und ordneten, bis sie gut verpackt ohne viel Volumen zu transportieren waren. „Das machen die beiden nicht zum ersten Mal – Nomaden“ ging es ihr durch den Sinn. Es fiel ihr schlagartig ein, wie sie dergleichen schon einmal erlebt hatte. Bei einem längeren Arbeitsaufenthalt in Südtirol bat sie die Haushälterin des kirchlichen Gästehauses, ihr den Koffer für eine dreitägige Dienstreise zu packen. Die nahm eine Tasche mittlerer Größe und alles war verstaut. Als sie ihr mit Ausrufen der Bewunderung dankte, lächelte die Frau undefinierbar und sagte mit bitterem Unterton „Ich war Ordonanz in der serbischen Armee.“

Als alles verstaut war, fragte die Jüngere in der Küche „Wieviel?“  „Nichts“ schoss es aus ihrem Mund, schnell und laut, aber schon im Nachklang verunsichert, denn ihr Sprachzentrum signalisierte, dass das Spiel von Geben und Nehmen hier nicht nach den üblichen Regeln der von ihr gesteuerten humanitären Hilfe ablief. „Bitte nennen Sie eine Summe, wir wollen nichts geschenkt. Wir kaufen“ Diesen Satz hatte die Frau offensichtlich lange geübt und sprach ihn „im Ernst“ jetzt zum ersten Mal. „Was es ihnen wert ist“ antwortete sie daher ruhig und entgegenkommend, denn sie bemerkte nun, wie jung ihr Gegenüber war und dass die Antwort für die junge Frau ein Risiko und die Probe auf’s Exempel bedeutete. Die Ältere hielt ihr 200 Euro hin. Sie nahm das Geld und dachte fast ganz ohne Sarkasmus  „Prima, beim Second-Hand-shop im Internet hätte ich das nicht bekommen“

Das ruhige, gemessene Verlassen ihres Hauses musste sie wohl als höflichen Abgang nach einem gelungenen Geschäftsablauf werten. Draußen wartete der Mann und nahm den größten der Beutel wie einen Rucksack auf den Rücken. Die drei gingen ihrer Wege, sichtlich schon ganz auf das nun Kommende konzentriert. Als sie den Hund aus dem Zimmer ließ, schnüffelte er noch ein bisschen herum und sah sie vorwurfsvoll an. „Caesar, mir geht es wie dir. Ich wäre gerne mitgegangen“ tuschelte sie dem Hund verschämt zu. Denn schon in ihrer Kindheit hatte sie die „Zigeuner“-Kinder beneidet, die mit kleinen Musikstücken auf der Straße bettelten und denen sie aufseufzend das Geld in die Schachtel warf, das ihr die mitleidige  Mutter dafür in die Hand drückte. „Junger Mann zum Mitreisen gesucht“ hatte auf handgeschriebenen Schildern an den Karussells und Kirmesbuden ihrer Kindheit gestanden, ein Lockruf, der nie verklang. Immer sollte sie die bedauern, die doch ein beneidenswert freies Leben führten, bis heute.

Über diese Brücke der Erinnerung, die ihre eigene Erfahrung als Flüchtlingskind wie stets ausließ, führte sie sich vor Augen, was ihre Generation erfahren hatte: die Flüchtlinge nach dem zweiten Weltkrieg, die Zugereisten in den Jahren des Wirtschaftswunders, die Mitbürger, die die DDR verlassen hatten, die Bosnier, Serben und Kroaten nach dem Zerfall Jugoslawiens, die Syrer, Afghanen und Iraner ab 2015 und die indonesischen Flüchtlinge nach der jüngsten Steigung des Meeresspiegels. Es waren kleine Zwischenspiele, denen sie sich nach den Erziehungsprinzipien ihrer Generation gewachsen zeigte, die sie vielleicht zur Stärkung ihrer Identität gebraucht und benutzt hatte. Was jetzt kam, war anders, auch wenn die Lagerfeuer, die in dem Wäldchen vor ihrem Haus bei Einbruch der Dunkelheit angezündet wurden, fast nostalgische Gefühle auslösten. Ihren Mann am anderen Ende der Welt konnte sie weder mit I-Phone noch e-mail erreichen. Sie hatte ihm sagen wollen, dass die Welt sich heute vor ihrem Haus für immer geändert hatte.  Keine Verbindung. Ein Zufall, sie schlief ein, Caesar ‚mal wieder auf Herrchens Bettseite  neben sich.

Beim Aufwachen nahm sie als erstes wahr, dass die Geräusche zwischen Haus und Strand verstummt waren, Es rauchte kein Feuer. „Komm Caesar“ trieb sie den Hund an, „Wir gucken nach, wie’s unten aussieht“. Aber der Hund hatte keine Eile, die Tür wie gestern mit der Schnauze zu öffnen. Der Strand lag in seiner  künstlich hergestellten Vollkommenheit unberührt da. Der fahrbare Kiosk, eine silbern blinkende Box,  hatte geöffnet. Als sie sich ihm vorsichtig und ungläubig näherte, fragte aus dem Innern ein junger Mann mit arabischem Akzent nach ihren Wünschen. „Vier Brötchen“ probierte sie mit unsicherer Stimme aus. „Milch oder vegan?“ fragte er. Sie blickte ihn ungläubig an und begann zu lachen, immer lauter, hysterisch,  bis sie sich außer Atem in einen der neuen, unbenutzten Strandkörbe fallen ließ. Es knarzte beim Hinsetzen. Ihre Hand griff neben das Sitzpolster zupackend in die Klinge eines scharfen Messers. Es schmerzte nicht sofort. Das Blut färbte den Griff aus Walzähnen rot.

Birgit Dankert

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