Düppeler Schanzen

„Es gibt keine andere Möglichkeit.“
„Aber das ist doch Wahnsinn!“
„Richtig, blanker Wahnsinn. Ich sehe keinen anderen Weg, uns weiterhin zu begegnen.“
„Du bist die intelligentere, aber mein Verlangen ist offensichtlich größer. Erklär mir noch einmal, was ich tun muss, um Dich wieder zu sehen.“

Sie zögerte einen Moment und dachte an den Ratschlag von Max Frisch, dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinzuhalten und nicht wie einen Putzlumpen um den Kopf zu schlagen.

„ …..na ja, es gibt ein deutsches Volkslied, darin  heißt es ‚nichts auf der Welt kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand weiß‘ (das war der Mantel) – also, keinen Anruf, keine mail, keine Briefe, nichts Schriftliches, nirgends Auditives, keine Bilder, keinerlei Spuren arrangierter Begegnung in Hotels, Restaurants, keine Andeutungen im small talk, in Interviews  – und vor allem: keine neuen Kooperationsfeldern (das war das nasse Tuch).“

„Das hört sich an wie die Hausordnung einer Sekte oder der verzweifelte Selbstversuch eines Nerds. Du musst doch wissen, dass das nicht funktioniert.“

„Es ist die einzige Möglichkeit, um noch öfter als ein letztes Mal mit Dir zusammen zu sein. Es wird funktionieren, es funktioniert seit Jahrtausenden.“

Er wollte nicht wahr haben, dass es in dieser Absprache nicht um ihre Liebe, sondern ausschließlich darum ging, ob darüber berichtet werden konnte. In seiner Welt machte das keinen Unterschied. In ihrem Leben war kein Aufwand zu groß, um öffentliche Aufmerksamkeit fern zu halten, wenn sie nicht für gesetzte Ziele instrumentalisiert werden konnte. Mit ihrer Liebe zu ihm war kein Ziel verbunden, das Öffentlichkeit zuließ.

„Für mich bedeutet es praktisch den Abschied von dir.“

„Das wäre die erste SMS an mich auch!“

„Hielte ich dich für eine Romantikerin, würde ich glauben, Du suchst ein ganz besonderes Abenteuer.“

„Ich will mit dir zusammen sein. Ich will Dich nicht verlieren“.

Sie hatte sich vorgestellt, ein international arbeitender Schauspieler, der sein Gesicht unbeschwert auch für die Werbung teuerster Marken zur Verfügung stellte, lebe ganz in der Gegenwart, delegiere den Datenkram und finde sich leicht zurecht in ad hoc-Arrangements . Aber da hatte sie sich vom Chaos der Hotelsuiten  täuschen lassen und seine skandinavische Erziehung nicht bedacht.

Dabei war es doch der Norden, der ihr wie ein eisiger Strahl durch den Schoß gefahren war, als sie ihn zum ersten Mal als legendären Vorfahren der Magnaten-Dynastie ihres Ehemannes posieren sah. Als intellektuelle Angeheiratete war sie von der Familie abgestellt, bei den Dreharbeiten in historischen Räumen nach dem Rechten zu sehen und das bezog sich sowohl auf geschichtliche Korrektheit als auch auf das unersetzbare Interieur. Als sie seiner Schönheit und Eleganz verfiel, atmete die Familie auf: endlich eine Aufgabe für das arrogante Hascherl!

Er spielte den südosteuropäischen Feudalherren mit so viel ahnungsloser sozialer Verantwortung im Blick, dass sie sich entschloss, ihre Kompetenzen zu überschreiten, wohl wissend, dass sich hier eine Gelegenheit zur Camouflage ihrer Gefühle bot, wie sie nicht wiederkehren würde. Sie bat ihn zu einem Gespräch, sozusagen in ihrer Rolle als historische Beraterin. Sie wählte die englische Sprache um den von Skandinaviern gefürchteten und unausweichlich herausgehörten belehrenden Ton des Deutschen ebenso zu umgehen wie das weiche Wiener Idiom, das erst gar nicht ernst genommen wurde.

„It’s a question of European Enlightenment“ begann sie wie nebenbei. „You have another understanding of social values ….. als dieser Fürst. Darum bewegen Sie sich auch anders. Der Fürst hatte keine Ahnung vom Leben und den Bedürfnissen der Menschen außerhalb seines Erfahrungskreises. Für ihn war europäische Aufklärung eine Erweiterung seiner eigenen Möglichkeiten, nicht der seiner Untertanen. Sie interpretieren ihn von heute, aber da ist er eigentlich ein Monster. Sie müssen ihn von seiner Gegenwart und aus der Vergangenheit der Dynastie heraus spielen – dann wird seine Größe plausibel.“ – Diese Angebereien konnte sie sich leisten. Er musste sie ertragen. Das war ihm klar. Es gehörte zum Job. Sein Blick war um freundlichen Respekt bemüht. Sie war 12 Jahre älter als er.

Er spielte von nun an auf den Punkt ihrer Erklärungsversuche. Ihr wurde unheimlich. Er hatte sie verstanden – „bis auf den Grund“. Er hatte auch verstanden, dass diese stille Übereinkunft eine Liebeserklärung war, der er nur in den Grenzen ihrer familiären Situation und Überlegenheit begegnen konnte. Dazu gab es weder für ihn noch für sie übernehmbare Verhaltensmuster. Er musste sich einklinken in die Gegenwart einer Dynastie, deren lang zurückliegenden historischen Höhepunkt er als Schauspieler darstellte. Sie spürte mit Angst und Genuss die professionelle und sexuelle Versuchung, die diese surrealistische Situation auf ihn ausüben musste. Keiner der verinnerlichten Mechanismen von Selbstachtung und Respekt vor Frauen half ihm heraus.

Ihre Begegnungen schienen von unbefangener Zielstrebigkeit. Zu der Zeit war jede SMS, jede e-mail möglich. Als sie sich das erste Mal liebten, war sie seiner telefonischen Bitte, zu ihm in sein Gast-Appartement zu kommen, fast unterwürfig und in sorgloser Freude gefolgt. Die Zäune – die elektronischen wie die von vor 300 Jahren - waren nach außen, nicht nach innen gerichtet. Und mit den Bodyguards war es wie mit den Zäunen. Sie genoss seine nackte disziplinierte Wohlgestalt, die überlegten Zärtlichkeiten, das kurze um Einverständnis einsuchende Zögern bevor er sich treiben ließ, sein Ausklingen in Dankbarkeit und einer Spur Selbstironie. Sie zügelte ihre Gier, war beruhigt und fühlte sich bestätigt: er spielte nicht den Fürsten.

Seine wachsende Ratlosigkeit teilte sich ihr nicht mit. Er begehrte sie vom ersten Moment an, als er sie sah. Was ihn faszinierte, war alles andere als klar und nachweisbar. Aber was war er für sie? Es konnte doch nicht sein, dass dieses privilegierte Leben an der Seite eines distinguierten, offensichtlich liebenden und verständnisvollen Ehemannes aus der europäischen Aristokratie sie zielstrebig nach billigen Abenteuern mit Schauspielern Ausschau halten ließ. Was vermisste sie, was bot er ihr? Es musste mit dieser Regieanweisung zu seinem Missverständnis fürstlicher Verantwortung zu tun haben. Aber wollte sie, dass er sie wie der behandelte, den sie ihn zu spielen gebeten hatte? Oder war das die Rolle ihres Ehemanns und er war der tumbe tor aus dem Norden, den sie sich zurichten wollte? Dabei war sie, was er sich gewünscht und erwartet hatte, nicht exotisch, nicht pretiös, sondern eine einfache, erfahrene Frau aus einer Lebenssphäre von Tradition, Reichtum, Bildung und Witz, deren Existenz er sich als Filmkulisse vielleicht vorgestellt, aber nicht für möglich gehalten hätte. Er wunderte sich, dass sie nicht spürte, wie wenig ihn diese Kulisse beeindruckte. Er war Schauspieler, nicht der Fürst, aber noch weniger ihr Komplize.

Als der Film erfolgreich angelaufen war, kam ein Treffen nicht mehr in Frage. Unbegleitet und unauffällig besuchte sie die Wiener Uraufführung. Denn die offizielle Haltung des Hauses, das sie vertrat, garantierte die Distanz zum Filmprojekt und unterstrich die Kunstfreiheit ohne jede Einmischung und Verantwortlichkeit. Von nun an galten wieder die hergebrachten Regeln. Er war verblüfft, weil er sich auf der Premierenfeier im Wiener Stadtpalais an ihrer Seite gesehen hatte. Stattdessen trafen sie sich weit nach Mitternacht in einem Wiener Vorstadtrestaurant, dessen Adresse sie ihm zugeflüstert hatte. Nur gut, dass er die literarische Tradition dieser von ihr verachteten Orte und Treffen nicht kannte. Aber genau hier stellte sie ihm die Bedingungen.

Halb verärgert, halb amüsiert erfuhr er, wie sie funktionierten. Er las von ihr in der Zeitung, die im Hotel auslag. Jemand erzählte, in welcher Stadt, in welchem Haus er sie gesehen hatte – auf dem Sprung, um hier- und dorthin zu fliegen. In Interviews nach ihren Plänen gefragt, machte sie vage Angaben, die er als präzise Daten entschlüsselte. Er machte sich klar, dass es ihr genauso ging und verhielt sich danach. Seine Medienpräsenz war ungleich größer. So gab er Tempo und Treffpunkte vor. Die Unverbindlichkeit, der Leerlauf, die Anonymität seiner Umgebung kamen ihnen genauso zugute wie die zelebrierte Exklusivität und Zurückgezogenheit ihrer Familie. Er konnte jederzeit überall sein und gesehen werden. Sie konnte jederzeit überall sein, bedacht darauf, nur dort gesehen zu werden, wo es um Projekte der Familie ging. Ihrer beider Bewegungsfreiheit jenseits der nachweisbaren Verbindungswege war so erstaunlich tauglich für die heimliche Liebe, dass er sich zusammennehmen musste, um in den Drehpausen neuer Filme nicht darüber zu räsonieren. Er quälte sich mit dem Gedanken, dass sie darin Übung zu besitzen schien – so leicht ging ihr die Regie der Treffen von der Hand. Er wusste nicht, wieviel Exkursionen und Studienreisen sie als junge Wissenschaftlerin organisiert hatte. Es gelang ihnen, das Glück des Zusammenlebens von ihrem schmutzigen Deal getrennt zu halten und dabei keine Kausalitäten zwischen Heimlichkeit, Begehren und Erfüllung zuzulassen. Beide hielten das für die ihnen gemäße, eben nordeuropäisch-protestantische Version von Sünde, Schuld und Vergebung,

Um die Geschichte des Hauses, in das sie jung verwitwet eingeheiratet hatte, als Beispiel europäischer Einheit und Werte zu deuten, musste man großzügiger Natur sein. Ähnlicher Großzügigkeit bedurfte es, ihre norddeutsche Heimatstadt als Vorbild friedlichen Zusammenlebens in Europa zu feiern, nur weil man sich nach Jahrhunderten der Schlachten und des Gemetzels nach zwei Weltkriegen auf eine moderate Minderheiten-Regelung verständigen konnte. Es war 150 Jahre her, dass auf den Düppeler Schanzen Tausende junger Männer aus Familien der Länder ihres ersten und zweiten Ehemannes und ihres Geliebten verblutet waren. Das ging ihr zum ersten Mal durch den Kopf, als sie eine offizielle Einladung der deutsch-dänischen Grenzstadt zur Uraufführung des Filmes erhielt. Man bat sie, an einem Gespräch über den Film und seine historischen Hintergründe teilzunehmen. Dabei ginge es hauptsächlich um eine Feier der EU und ihrer grenzüberschreitenden Kulturpolitik. Man habe den Event ganz absichtlich in die Nähe der Erinnerungstage an die Schlacht auf den Düppeler Schanzen gesetzt. Gesprächsteilnehmer seien neben ihr der Regisseur und der Hauptdarsteller, auf die Moderation freue sich die Feuilleton-Chefin der Regionalzeitung. Na prima, sie würden sich als ehemalige Kriegsgegner treffen, dachte sie mit grimmigem Humor. Absagen konnte sie nicht. Sie zog, wie sie es während des Hochsommers und einiger Tage im Advent gewohnt war, in ihre alte Wohnung an der Ostsee. Für Chauffeur und Bodyguard hatte ihr zweiter Ehemann nach der Heirat die Etage darunter gekauft. Zum ersten Mal dachte sie an ein Boot.

Die Region diesseits und jenseits der Grenze machte aus der Veranstaltung ein Fest für den Weltstar. Jeder wollte ihn sehen. Die Medien überschlugen sich. Der Event gehörte ihm. Er genoss den Hype. Er war zu Hause. Ihr wurde unmissverständlich und eh‘ sie sich’s versah, die Rolle der Vertreterin der deutschen Seite zugewiesen: eine Tochter des Landes - in feudale, aber doch wohl dubiose Verhältnisse geraten – mit Hilfe des Films eines Weltstars von der anderen Seite der Grenzen heimgekehrt und zu Erklärungen verpflichtet. Chauffeur und Bodyguard nahm man als skurrile Verirrungen wahr, eben „Der Besuch der alten Dame“. Sie kannte diese Art der Vereinnahmung seit Jahrzehnten und wusste, dass man dergleichen  hierzulande als Toleranz und Versöhnlichkeit ausgab.

Zwischen der Filmvorführung, an der sie nicht teilnahm, und dem Podiumsgespräch gab es einen Imbiss. Der Regisseur war abgereist. Man saß wie sie es von Kindheit an gewohnt war, nach Nationen getrennt an gekennzeichneten Tischen. Und auch die Sitzordnung jedes einzelnen Tisches war nach Macht, Geld, Einfluss, bis hin zu der historischen Bedeutung der Familiennamen austariert. Sie bemerkte, wie sehr er sich auf seine Aufgabe und die Gesprächsteilnehmer konzentrierte. Er nahm die Sache ernst. So etwas wie frivole Eifersucht erfasste sie. Sie fand keinen Einstieg in den nur vordergründig zwanglosen small talk an gedeckten Tischen. Sie wusste, dass man über ihre Scherze hier nicht lachen würde.

Das Gespräch, unterstützt von Film-Ausschnitten zu den Dreharbeiten fand in der Montagehalle einer Reederei statt. Man war wegen des Weltstars gekommen. Sie würde aufpassen müssen, hier nicht als die dröge deutsche Expertin oder die unberechtigte  Besitzerin all‘ dessen, was auf den Leinwand zu sehen war, vorgeführt zu werden.  Der Dünkel der Feuilleton-Chefin offenbarte sich schon  in der ersten Frage.

„Wie wollen Sie angeredet werden?“ „Am liebsten korrekt“ bat sie liebenswürdig.  „Wissen Sie, bei uns hier im Norden ist so eine österreichische Anrede von Adeligen ja nicht mehr üblich.“ Die Moderatorin schaute den Schauspieler zur Unterstützung ihrer republikanischen Überlegenheit an. Der schenkte ihr ein strahlendes Lächeln „Ich bin ja Bürger einer Monarchie und kann vielleicht helfen. Die Fürstin besitzt einen deutschen Pass und darf deshalb auch so genannt werden. In Österreich ist wie in Deutschland der Adel schon lange abgeschafft“. Das verstand die Moderatorin weder auf Deutsch noch in jeder anderen Sprache.

Sie aber verstand, dass er ihr geholfen hatte, als er bemerkte, dass die auf billige Effekte kalkulierte Gesprächsführung ihr gefährlich werden konnte. Sie vertraute ihm auf ungewohnte Weise. Als die Moderatorin sie wenig später fragte, was für ein Gefühl es denn gewesen sei, mit diesem Sexidol „einen Film zu drehen“, folgte sie nur noch seiner Gesprächsführung und begann mit ihm eine nun fast ungestörte Unterhaltung.  Es ergab sich ein Fachgespräch, wie beide es bisher nicht geführt hatten, und in dem sie sich ganz entspannt neu erprobten.

Beim Aufbruch, im abschließenden Teil der Präsentation gab es vor dem Herausgehen die übliche Technik-Panne. In Vorher-Nachher-Manier sollten die Original- und die Film-Versionen der Schauplätze in Schlössern und Parks noch einmal nebeneinander gezeigt werden. Der Bildschirm blieb schwarz. „Ich habe das auf stick“ bot er an und holte einen silbernen Schlüssel, das Werbegeschenk von Europas größtem Telekommunikationsunternehmen aus seiner vorderen Hosentasche. Der Techniker stellte den Dia-show-Modus ein. Die Bilder-Folge begann und hörte nicht auf, als die Serie der zum Film gehörigen Bilder beendet war. Er wandte sich von ihr ab.

Es folgte das Bild einer nackten, nicht mehr jungen Frau. Das Foto war in den frühen Morgenstunden an der Dusche des Swimmingpools dicht bei den Gäste-Apartments  aufgenommen worden - offensichtlich vor ihrem ersten Zusammentreffen. Sie hob mit der einen Hand ihre Brüste, um das Wasser auf die sonst nicht erreichbaren Stellen zu lenken und führte es mit der anderen Hand zwischen ihre geöffneten Beine. Eine intime Geste, außer ihr ging keiner so früh ins noch kalte Wasser, eine alte Gewohnheit.

Sie blickte in die Augen des Mannes, der dieses Bild  auf einem stick bei sich trug. Sie bemerkte, wie der Fernseh-Reporter der Kamerafrau einen Wink gab. Die hielt voll ‚drauf. Das I-Phone am Hosenbund ihres Body Guards bebte lautlos. Die Feuilleton-Chefin hatte sie gar nicht erkannt. Dann ging sie an ihm vorüber. Wie zerstreut verließ sie die Halle.

Birgit Dankert

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