Bundesstraße 199

An einem Stück war sie die Strecke nie gefahren, weder in die eine noch in die andere Richtung, sondern immer von der Mitte her: entweder nach Osten zu der Stadt mit den Heringszäunen vor dem Meeresarm, oder nach Westen zur Nordsee. „Demnächst links/rechts abbiegen und der B199 folgen“ lautete inzwischen die Anweisung zehn Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatte.

Ein paar Anlässe waren über fünfzig Jahre die gleichen geblieben: Krokusblüte, Lämmer am Deich, der Weißdorn und die Heckenrosen, die Knicks, der Weg zum Frühling an der Schlei, das sommerliche Orgelkonzert. Und natürlich war sie in den kalten Wintern früherer Jahrzehnte im Schutz des Schneepflugs nach Hause gebracht worden und konnte in der anderen Richtung zur Zeit der Herbststürme zwar über die Straße fahren, aber nicht immer auf die Inseln kommen. Der Ablauf der Jahreszeiten prägte diese Straße mehr als Fahrverkehr und Bewohner. Ihr eigener, eher touristischer Rhythmus verriet sie als Zugereiste. Familie und Schulfreunde gab es weder in die eine noch in die andere Richtung. In erster Linie dokumentierte die Straße den Anfang ihres Berufslebens. Hier verfolgte sie Ziele, hier wollte sie ankommen - und schon bald wieder wegfahren. Ihre Erinnerungen verließen den Radius von landschaftlicher Schönheit und beruflicher Erfahrung selten, ohne jedoch Zusammenhänge herzustellen. Alles, was darüber hinausging, schien ihr immer mehr mit der Vergangenheit als mit Gegenwart und Zukunft und gar nichts mit ihr selbst zu tun zu haben. Sollte sie die Gegensätze der Landschaften längs der beiden Strecken auf den Punkt bringen, würde sie den eingeübten Polit-Pointen kaum widerstehen können: die Schönheit der Monokultur auf den wachsenden Rapsfeldern nahe der schrumpfenden Marine-Standorte gegen die surrenden Growians vorbei an ehemaligen Starfighter-Standorten auf dem Weg nach Sylt. Aber das sagte gar nichts.

Als sie hier neu war, hatten ihr Heimatkundler die Zusammenhänge zwischen Bodenbeschaffenheit, Siedlungsgewohnheit, sozialer Zuordnung und zwischenmenschlichem Verhalten der in jeder dieser Beziehungen unterschiedlichen Regionen beider Straßenstrecken wie eine Geheimwissenschaft erklärt. Sie erinnerte sich an eine in ihrer Kargheit für immer haften gebliebene Schilderung der älteren Kollegin. Die war als junges Mädchen von einem armen Zuhause „auf der Geest“ als Dienstmädchen auf einen Bauernhof ins „reiche Angeln“ gekommen und begleitete sie nun als Fahrerin und Verwaltungsangestellte eines bibliothekarischen Projektes in sechs Schulen entlang der B199. Eine oft erzählte Geschichte, die zu ihrer Verblüffung als Beispiel sozialen Aufstiegs weitergegeben wurde. Aber für dieses Mal erhielt die Beifahrerin aus der 68iger Generation mit Studium und Emanzipationsanspruch den Ratschlag mit auf den Weg, vor allem weiblichen Vorgesetzten und Kolleginnen zu misstrauen. So hatte die Frau auf dem Fahrersitz es im Matriarchat der bäuerlichen Haushalte erfahren und der öffentliche Dienst änderte die Meinung der Kollegin nicht. Es fiel ihr ein, wie sie einmal an ihrem Geburtstag – als dem einzig verfügbare Termin - zu einem Vortrag beim Landfrauen-Verein an der Ostsee-Küste im Überlandbus durch die klirrende Kälte entlang der deutsch-dänischen Küste fuhr. Sie genoss die frostige Klarheit der mit „Knicks“ gegen den Wind parzellierten leicht hügeligen Landschaft. Nach der schönheitstrunkenen Fahrt stellte sich keine Verbindung her zu den muffigen Frauen in selbstbewusster Fülle und gesellschaftlicher Unsicherheit, die ihr bei einer Tasse Kaffee missbilligend die frisch gebackenen Plätzchen in den geschminkten Mund zählten, die 50 DM nur zögernd in die Hand drückten und ungläubig beobachteten, wie sie den Schein kurzerhand beiläufig in die Rocktasche ihres Kostüms steckte. Für den Vortrag über das Mutterbild in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur hätte man ihr nachträglich kein Honorar gezahlt. Ein Saal voller Mütter und Großmütter bei Kaffee und Kuchen, lebenstüchtige Frauen ohne Alternative zur gefestigten Existenz – wie hatte sie so grausam und selbstgerecht sein können? Für das aufrechte kleine Mädchen in der Dörfergemeinschaftsschule in Richtung Nordsee empfand sie dagegen sofort Zuneigung, als es das empfohlene Kinderbuch ganz sachlich ablehnte: „Nein danke, ich kann schon lesen“. Sie verstand: Verschwendung von Ressourcen war hier nicht angesagt.

Die Landstraßen ihrer eigenen Kindheit und Jugend verliefen im Westen hunderte von Kilometern weiter südlich, wo die Höfe und Felder größer, die Rendite höher, die Buchenwälder großflächiger, die Kirchen dominanter und von anderer Religion, die Straßenverhältnisse schon damals besser gewesen waren und das Wasser immer von oben kam. Fahrschülerin war sie, eine der wenigen Mädchen auf dem Weg ins Studium. Wer ein Jahrzehnt mit dem Überlandbus zur Schule gefahren war, wusste, was eine Landstraße bot und verweigerte. Es hatte Peymanns Burgtheater-Inszenierung von Peter Handkes Theaterstück über die Landstrasse nicht bedurft. Der Schulweg war ja nur einer unter anderen, eher Anlass als Funktion. Das wusste jeder Fahrschüler. Nach dem Fußweg zur Haltestelle war mit dem Betreten des Busses der erste Schritt ins Leben schon ‚mal getan. Wer weiß, was folgte? Die Sitzordnung wirkte wie ein Schachbrett mit Figuren unterschiedlicher Wertigkeit. Es kam darauf an, die Freiheit der Schülerrolle als Verachtung jeder Ordnung zu interpretieren und so „das Establishment schachmatt zu setzen“. Das lernte man nur auf der Fahrt im Bus. Zur Landstraße gehörte auch der Weg zurück, eine Erfahrung, deren disziplinierende Wirkung in Sachen geordneter Rückzug sie erst viel später begriff. Es ging darum, durchnässt nach lebensgefährlichem Schlittschuh-Fahren sicher ins warme Zuhause zu gelangen, voller Vorfreude auf die Geburtstagsfeier auch nach der missglückten Mathe-Arbeit aus dem Bus zu springen, die betrunkene Rückkehr vom Karneval auf dem Bauernhof als Heimfahrt nach der Sportstunde aussehen zu lassen. Die Landstraße führte von der Opernaufführung in der Landeshauptstadt zurück zur Schallplatte ins Mädchenzimmer, stand für größere Verhältnisse, wohltuende Anonymität.

Das Warten auf den Bus gehörte dazu, schenkte viel Zeit, um Vogelstimmen und Nachtgeräusche wahrzunehmen, zu sehen, zu riechen und zu erleben, wer so alles unterwegs war. Landstraßen sind die Verkehrsadern der Kleinen, der Jungen und Alten, der Unbedeutenden, Abgehängten – in Wahrheit aber der noch unerkannten Avantgarde, die auf der Landstraße nur scheinbar auf den Bus wartet. Wer viel las, konnte nicht übersehen, dass die Literatur ausdauernd auf der Landstraße unterwegs war– oder umgekehrt – von den Bremer Stadtmusikanten, Hans im Glück, Pinocchio und dem Zauberer von Oz bis zu den raubeinigen oder verwöhnten Hedonisten der Road Movies: ihnen allen begegnete sie auf der Landstraße offen, ohne jede Voreingenommenheit. Schon als Kind wusste sie, dass hier auch Mutter Courage, KZ-Entflohene, Flüchtlinge und die fragwürdigen Gestalten der literarischen Nachkriegsunterhaltung schlurften, schleppten, starben oder sich der ersten VWs erfreuten. Da schaute man besser nicht hin.

Über dreißig Jahre lang erlebte sie die B199 neben einem viel zu vorsichtigen Fahrer immer größerer schnellerer Autos als Verbindungsweg zu den wenigen angesagten Orten der Erfolgreichen. Sie fühlte sich jetzt den viel Beschäftigten zugehörig, die sich hier, fern der Welt, nur eine kurze Auszeit nehmen zu können glaubten. Dabei wusste sie genau, warum sie das Autofahren nach kurzer Zeit aufgegeben hatte. Es hinderte sie am Genuss jeder sinnlichen Wahrnehmung. Als Fahrerin sah sie nichts. Autofahrer durfte man nicht nach der B199 fragen. Sie nahmen nur die verkehrstechnischen Gefährdungen der Strecke wahr. Auf dem einen Abschnitt drohten lebensgefährliche Kurven und lange Strecken mit Überholverbot. Auf dem anderen verführte die mit zahlreichen Zufahrten von Landwegen gespickte scheinbare Gradlinigkeit zu Tod bringendem Rasen. Die Macht über Motor und Steuerrad erschien ihr wie die mindere Übung im Vergleich zum Freibrief für Tagträume. Der vorsichtige Fahrer verbot ihr immerhin, auf der B199 Strauß-Walzer der Wiener Philharmoniker zu hören und sprach von unerträglicher Kakophonie. War sie entspannt, zeigte sich ihr die Landstraße nun wie die Mittelrippe eines sacht aufgehobenen Laubblattes, dessen Adern sie rechts und links auf immer kleineren Wegen in Ruhe und Stille führten. Auf den Rückwegen, mehr oder weniger angetrunken, rekapitulierte sie in gnadenloser Eloquenz ihre Eindrücke: die Gespräche, die Musikstücke, das Essen, das Mobiliar und versah alles mit Urteilen, Zensuren oder Verbesserungsvorschlägen. Denn so etwas Ähnliches war jetzt ihr Job.

Nur einmal war es anders. Ein Hochschul-Lehrer und seine Frau hatten in ein Herrenhaus nahe der Straße eingeladen, das sie in jahrelanger Abwesenheit der Eigentümer bewohnten. Als sie den bereits mit gut zwanzig Personen gefüllten Salon betrat und sich umschaute, vermittelten ihr die Sitzordnung, das Licht und der Geruch des geölten Parketts mit seinen alten Teppichen eine jener wiederkehrenden Fontane-Szenen der Abendgesellschaften des Landadels. „Gottseidank nicht der knauserige Storm“ dachte sie. „Wir sind an der Ostsee. Hoffentlich geht es nicht wieder über die deutsch-dänische Frage.“ In der Tat gehörten die anwesenden Männer den Berufen und Verantwortungsbereichen an, die Fontane wie Storm als Quelle, Ursache oder Wurzel ihrer politischen und gesellschaftlichen Positionen ausgemacht hatte. Die hier waren aber ganz anders und ihre Begleiterinnen auch. Der Abend begann um acht Uhr. Es dauerte vier Stunden, bis durch gedämpfte Gespräche, vorsichtiges Nachfragen, zögernde Scherze und nach dem Essen ausgeteilten Punsch klar wurde, dass bis auf zwei Personen alle von weit her Zugereiste waren. Es kam ihr vor, als ob es ein, zwei Minuten ganz still gewesen wäre. Dann tobte bis in die Morgenstunden eine ausgelassene vielstimmige Unterhaltung und befreites Gelächter über das, was man hier liebte, was man vermisste, was man komisch fand und was alles ganz anders werden musste. Viele der Wünsche: eine kritischere Presse, Straßencafés, Radwege, Alternativen zu dunkelblauer Kleidung, Musik, die diesen Namen verdiente, Badegarderobe über Unterhose und Unterhemd hinaus gingen später in Erfüllung. Beim Autocorso auf der B199 in der Morgensonne fühlte nicht nur sie sich verstanden, wohlig zu Hause, war ganz satt und schwieg.

Mit 75 begann sie wieder, die beiden nur wenig veränderten Strecken mit dem Bus zu befahren: allein, zu Vorträgen, Diskussionen, Konzerten und Ausstellungen, bei denen ihr manchmal noch die Rolle der Referentin zukam, sie meistens aber die Besucherin spielte. Sie konnte ihrer Umgebung nicht verständlich machen, dass sie diese Unternehmen nicht als Reduzierung ihres ehemals weltweiten Agierens empfand. Man winkte großzügig ab. Egal was oder wer es war, die Fahrt über Land interessierte sie jetzt mehr als die Veranstaltung. Als alte Frau in wetterfester Kleidung passte sie nun wieder so vorzüglich in die strenge Hierarchie der Auto-, Bus- und Zugfahrer des Pendler-Milieus, dass es ihr leicht fiel, auf i-phone und tablet zu verzichten.

Schon am frühen Vormittag fuhr sie dieses Mal vorbei an den repräsentativen und den versteckten militärischen Einrichtungen links und rechts der Straße, an den Einfamilienhäusern, die von unterschiedlichen Generationen deutscher Geschichte gebaut und abbezahlt worden waren, an all‘ den Versuchen, mit der Zeit zu gehen. Was für Kulissen! Der Bus passierte die Kreuzung, auf der ihr Kollege mit seiner Frau tödlich verunglückt war. Drehte sie sich um, schien ihr die Sonne auf eine Weise ins Gesicht, bei der auch mit Sonnenbrille nichts zu sehen war. So passierte es. Sie hatte für wenige Monate vertretungsweise dem Betriebsrat angehört, als die Pendler von der Westküste, die in einem bestimmten Stundenrhythmus arbeiteten, eine Zulage verlangten, weil sie sowohl auf der Fahrt zur Arbeit als auch auf der Heimfahrt gegen das Sonnenlicht zu kämpfen hatten. Der Antrag wurde mit ihrer Stimme abgelehnt – wenige Tage vor dem Unfall: ohne jeden kausalen Zusammenhang eine traumatische Erfahrung. Wer hier geboren und aufgewachsen war, sah die Sonne und ihr Licht nicht nur als Freund. Auf dieser Strecke konnten immer einige im Bus hinter das Licht sehen. Davon war sie fest überzeugt, hielt zu diesem Thema aber verlässlich den Mund: die friesische omerta!

Zwei Orte vor ihrem Ziel stieg sie aus und folgte dem Duft von frischem Hefekuchen, den die Erinnerung, nicht die Nase ihr eingab. Die Bäckerei aus den Tagen ihrer sommerlichen Urlaubsvertretung in den öffentlichen Bibliotheken an der B199 gab es noch, auch wenn die Einrichtung und das Angebot sich verändert hatten. Sie bat an der Theke daher um ein Croissant zu einem Cappuccino, bekam die Worte kaum heraus und stellte beides auf den kleinen runden Tisch mit Ausblick auf die Haltestelle. Wohin sie gewollt hatte, war nicht mehr wichtig. Sie wartete auf den Bus, der mit ihr über die Landstraße fuhr. Darauf kam es an.

Birgit Dankert

Zurück zur Übersicht